Jennis Li Cheng Tien – Das menschliche Element


Text by Thomas Mader

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Jeder menschengemachte Ort – und sei er noch so unscheinbar – ist mit Bedeutung aufgeladen. Jedes Einkaufszentrum, jede Tankstelle, jedes Parkhaus und jede Bushaltestelle steht in Relation zu irgendjemandem, hat eine Geschichte und besitzt somit eine eigene Identität. Zweifellos gibt es verlassene, vergessene und verwahrloste Orte, aber kein Raum, in dem sich Menschen bewegen, ist absolut mono-funktional. Demzufolge kann es so etwas wie die „Nicht-Orte“ Marc Augés nicht geben. Umso verständlicher ist es auch, dass Menschen wütend reagieren, wenn Außenstehende sich anmaßen, Orte, die ihre Identität nicht auf den ersten Blick preisgeben, besser zu kennen als deren Bewohner und wenn diese Orte leichtfertig und respektlos als wertlos und uninteressant abgestempelt werden.

Oft konnte man schon beobachten, wie Kunst in sogenannten urbanen Problembezirken „zugelassen“ wurde und die Verantwortlichen sich dann wunderten, warum die Werke, und mit ihnen der halb gare Versuch, den in diesen Bezirken lebenden Menschen zu vermitteln, dass sie nicht vergessen worden sind, nach kürzester Zeit dem Vandalismus zum Opfer gefallen waren. Natürlich sind Jennis Li Cheng Tiens im öffentlichen Raum aufgebaute Werke schon zerstört worden. Auch sie ist davor nicht gefeit. Aber sie versteht diese Reaktionen viel zu gut, als dass sie nicht erkennen würde, wo sie ihren Ursprung haben und warum die Zerstörung vielleicht sinnlos erscheint, aber dennoch nicht sinnfrei ist. Deshalb errichtet sie ihre Installationen mit unendlicher Geduld immer wieder neu, damit an jedem Tag ein anderer Mensch die Möglichkeit bekommt, ihnen auf seine eigene Weise zu begegnen und mit ihnen zu interagieren.

Lis Werke sind keine künstlerische Selbstdarstellung oder egoistisches Platzieren, sondern sensibles und verständnisvolles Reagieren auf die Charakteristika der jeweiligen Räume. Sie sind interaktiv im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie wollen sich ihren Betrachtern nicht aufdrängen, sondern mit ihnen eins werden. Die Künstlerin weiß, was nötig ist, damit Kunst im öffentlichen Raum ihr ganzes Potenzial entfalten kann und dass mit der Arbeit in diesem Raum auch große Verantwortung verbunden ist. Weil sie dieses Verständnis und Feingefühl besitzt, geht sie an die verlassenen Orte. An die vernachlässigten und übergangenen Orte. An die alltäglichen Orte. Dabei konzentriert sie sich nicht alleine auf urbane Räume, denn auch ländliche Gegenden haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Lis Werke sind keine dekorative, sondern kommunikative Kunst, sind Ausrufezeichen und Signale, die sagen: „Diese Orte sind nicht nichts. Hier waren und sind immer noch Menschen.“ Aber sie sagen auch: „Hier fehlt etwas.“

Wenn die Öffnung des Geländes des stillgelegten Flughafens Tempelhof in Berlin eines gezeigt hat, dann ist es die Tatsache, dass Menschen Raum brauchen und diesen auch kreativ und positiv nutzen wollen und können, wenn man ihn ihnen nur zur Verfügung stellt.

Deshalb die Hinweise der Künstlerin auch oft an die Bewohner der jeweiligen Orte selbst gerichtet, damit diese nicht resignieren und ihrem Lebensraum nicht gleichgültig gegenüberstehen.

Lis Installationen leisten in dieser Hinsicht Pionierarbeit, denn sie kundschaften übersehene Orte aus, machen auf alternative Nutzungsmöglichkeiten aufmerksam und demonstrieren diese auf faszinierende Art und Weise.

Mehr als einen Anstoß geben und zum Nachdenken anregen wollen sie dabei aber nicht, denn sie maßen sich nicht an, die beste oder gar endgültige Nutzungsoption für einen Raum zu sein. Sie sind vielmehr Biosphären, in denen Ideen wachsen können, und die Menschen auf das regenerative Potenzial ihrer Räume aufmerksam machen sollen. Deshalb sind ihre Installationen und Interventionen meistens zeitlich beschränkt. Dieses kurze Aufblitzen der Kunst verleiht den augenscheinlich unscheinbaren Orten für kurze Zeit eine besondere Qualität. Sie füllt sie mit einer Magie, die nicht nur aus der Sensibilität der Künstlerin, sondern auch aus ihrem ausgeprägten Sinn für fragile und dabei klar strukturierte Ästhetik stammt, und die die Betrachter aufmerksam und neugierig macht.

Und Li weiß auch, wie sie die Menschen zur Kollaboration motivieren kann. Sie hat verstanden, dass es einfacher ist, Menschen an für sie ungewohnte Orte zu locken, wenn sie etwas mitbringen können und etwas mit nach Hause nehmen dürfen. Wenn sie von diesen Orten etwas bekommen und sie mit sich selbst füllen können. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um reale Gegenstände, Gefühle oder Erinnerungen handelt. Wichtig ist nur, dass die Menschen sich ihrer Räume wieder bewusst werden, sie wahrnehmen und nutzen. Denn sie allein sind ihre wahren Eigentümer. Deshalb können Lis Werke auch nur zeitlich begrenzt sein, denn sie wollen Räume nicht permanent okkupieren, sondern die Möglichkeit für andere kreative Nutzungen lassen. Auch die Materialien, die die Künstlerin für ihre Werke verwendet, spiegeln die Kurzlebigkeit ihrer Arbeiten wider. Oft sind dies unscheinbare Wegwerfprodukte und alltägliche Gebrauchsgegenstände, denen man ihre Besonderheit nicht auf den ersten Blick ansieht und die von der Künstlerin auf eine Art und Weise recycelt und bearbeitet werden, die ihnen eine ungeahnte Schönheit und Qualität verleiht.

Genau, wie ihre Kunst immer nur kurz in öffentlichen Räumen auftaucht, so ist auch die Künstlerin selbst meist nur für begrenzte Zeit an einem Ort anzutreffen. Sie ist eine Nomadin, die immer auf der Suche nach neuen Schauplätzen für ihre Gedanken und Ideen ist, und die nach getaner Arbeit weiterziehen muss.


Ihre Ruhelosigkeit treibt sie an, immer neue Orte aufzuspüren, neue Menschen zu treffen, neue Inspirationen zu sammeln und neue Dinge zu lernen. Aus ihr entsteht die große Sensibilität, mit der Li den Menschen begegnet, und auch ihr feines Gespür für ihre Bedürfnisse. Denn in einem öffentlichen Raum zu arbeiten, bedeutet, mit den Menschen, die sich in diesem Raum bewegen, zu arbeiten. Nur wenn diese Menschen auch als solche wahrgenommen und behandelt werden, kann dieser Raum ein lebenswerter Raum sein. Jennis Li Cheng Tiens Kunst ist deshalb in ihrer Essenz ein Ausdruck der Wertschätzung des Menschen mit all seinen Besonderheiten, Unvollkommenheiten, Liebenswürdigkeiten und Macken. Und das menschliche Element ist der wichtigste Baustein ihrer Werke.


1. In seinem 1992 erschienenen Werk Non-lieux (1994 in deutscher Übersetzung veröffentlicht) entwickelt der französische Anthropologe Marc Augé ein Konzept, das traditionelle Orte mit dynamischen urbanen und suburbanen Orten, den sogenannten „Nicht-Orten“, kontrastiert. Er unterstellt dabei öffentlichen Räumen, wie beispielsweise Flughäfen, Einkaufszentren oder Autobahnraststätten, keinerlei Relation, Geschichte oder Identität zu besitzen und rein mono-funktionale Aufgaben zu erfüllen. Siehe: Marc Augé, Non-lieux. Paris 1992


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Jennis Li Cheng Tien – The Human Element


All man-made spaces, even the most inconspicuous ones, are charged with meaning. Every shopping mall, every gas station, every parking garage, and every bus stop bears relation to somebody, has a history and thus possesses an identity. Doubtless there are many abandoned, forgotten and dilapidated places, but no space in which people move can be solely mono-functional and therefore no such thing as Marc Augé’s(1) “non-places” can exist. Considering this, it becomes even more understandable that people react angrily when outsiders claim to understand certain places better than their own inhabitants, and thoughtlessly and disrespectfully brand them as worthless and uninteresting, simply because they do not reveal their identity at first sight.

Oftentimes when permission is obtained to install art projects in so-called “problematic” urban districts the works promptly fall victim to vandalism. Just as often, district representatives react with surprise to these events, despite the fact that the projects are, more often than not, half-baked attempts to show the inhabitants of these districts that they have not been completely forgotten yet. Of course Jennis Li Cheng Tien’s public art pieces have fallen victim to vandalism as well. She is not immune to this tendency, but she understands the reaction well enough to see where it is rooted and to recognize why, despite it’s apparent senselessness, it is not empty of meaning.  That is why she continues to rebuild her pieces with boundless patience, so that on every new day a different person is given the possibility 18 to react to and interact with them in their own personal way.

Li’s works are far from being mere artistic grandstanding or egotistical self-placement. They are sensitive and sympathetic reactions to the characteristics of each respective space. They are interactive in the truest sense of the word; they do not want to force themselves on the spectators, they want to engage with them. She knows what it takes to tap the full potential of art in public spaces and that working in these spaces entails great responsibility.

It is exactly because of this understanding and sensitivity that she ventures out to the abandoned places, to the neglected and ignored places, to the everyday places. Li not only focuses on urban environments, but also works in rural areas, which oftentimes face similar neglect. Her works are not decorative art, but communicative art. They are exclamation marks signaling: “These spaces are not nothing! Humans were here and are still here!” But they are also saying: “Something is missing here!”

If the conversion of the once defunct Tempelhof airfield in Berlin has proven one thing, it is that people need space and they are willing and able to make creative and positive use of any space placed at their disposal. That is why her cues are also aimed at the inhabitants of the respective places themselves, so that they do not lose hope and become indifferent towards their living space. In this respect Li’s installations are pioneering works. They scout out overlooked spaces, spotlight alternative conceptualizations of the spaces, and demonstrate fascinating possibilities of how to use them.

At the same time her works do not strive for more than provoking thought and providing the first impetus to action, because they do not claim singular purpose for the space, they simply provide options. They are biospheres that allow ideas to grow and that draw the people’s attention to the regenerative potential of their spaces. That is why her installations and interventions are frequently limited to shorter time frames. This temporary “flaring-up” of art adds a special quality to seemingly inconspicuous spaces. She fills them with a certain kind of magic that originates in the artist’s sensitivity, as well as in her distinct sense of fragile and clearly structured aesthetics, and thusly arouses the visitors’ curiosity.

Li knows how to motivate people to collaborate with her. She understands that people are more willing to come to an unfamiliar place when they are allowed to bring something personal and take something home with them; when they get something from the place and when they can enrich it through personal belongings, feelings or memories.

What is most important for Li is that people become aware of their spaces, recognize and use them, because they alone are their true owners. Her pieces do not strive to permanently occupy spaces, but rather, to generate possibilities for future creative uses and that is why she sets a limited time frame for them. This ephemerality is also reflected in the materials the artist uses for her pieces. She often works with disposable products and articles of daily use that at first sight do not show their distinctiveness, and yet she recycles them in a way that bestows them with unimagined beauty and quality.

Just as her art, the artist herself only ever briefly appears in certain places. She is a nomad, always searching for new settings for her thoughts and ideas; a traveler that has to leave once the work is done.

Her restlessness is what drives her to seek out new places, to meet new people, to find new inspiration, and to learn new skills. Li’s empathy and her keen sense of people’s needs and desires are the sources of her great ability. Because working in a public space really means working with the people that move in this space, it is only when these people are being treated as such that this space is transformed into a space worth living in. Jennis Li Cheng Tien’s art is therefore essentially an expression of the appreciation of man with all his peculiarities, imperfections, and quirks.

The Human Element is the most important building stone of her works.

1. French anthropologist Marc Augé develops a concept that juxtaposes traditional places with dynamic urban and suburban spaces, his so called “nonspaces.” He claims that public spaces like airports, shopping malls, or motorway services do not bear relation to anybody, have no history and identity, and are essentially purely monofunctional spaces. Marc Augé, Non-Lieux, (Paris: Éditions du Seuil, 1992)